Immer öfter stoßen sich junge Menschen an gegenwärtigen Arbeitskonditionen. Wie kann eine neue Organisationsform die Bedingungen verändern? Ein Gespräch über demokratische Entscheidungen und Hierarchien in der Soziokratie. – Johanna Bürger für DIE FURCHE im Gespräch mit Florian Bauernfeind dem Leiter des Soziokratie Zentrum Österreich

Viele junge Menschen wünschen sich Mitgestaltungsmöglichkeiten und ein Berufsleben mit gesellschaftlichem Mehrwert. Kann das Organisationsmodell der Soziokratie da Abhilfe bieten?

Florian Bauernfeind: Ich denke schon, ja. Ich erlebe, dass man in der Soziokratie seine Potenziale vielfältiger einsetzen kann, und viel schneller Bereiche findet, in denen man sich innerhalb der Organisation auch wirklich nützlich machen kann, statt jahrelang einen Job zu machen, für den man eigentlich überqualifiziert oder ungeeignet ist. Gemeinsam mit einem unterstützenden Umfeld, in dem man Neues ausprobieren kann, bestehen viele Chancen zur Weiterentwicklung innerhalb seiner Organisation, in der man folglich auch lieber arbeitet. Man wird selbstwirksamer und identifiziert sich mit dem gemeinsamen Ergebnissen.

Soziokratie bedeutet, unter Einbeziehung aller Mitglieder einer Organisation, zu regieren. Wie kann man sich das vorstellen? 

Bauernfeind: Die Soziokratie bietet uns ein Modell, wie Mitbestimmung in einer Organisation praktisch funktionieren kann. Alle haben das Recht, gehört zu werden und in ihren jeweiligen Bereichen direkt mitzuentscheiden. Das System ist recht einfach und basiert auf nur wenigen Prinzipien, die aber sicherstellen, dass Macht nicht nur topdown, sondern im gleichen Maße bottom-up wirkt. Macht wird zu einer gemeinsamen Verantwortungmit der wir offen umgehen Die Soziokratie wirkt wie ein Feedbacksystem, durch das eine Organisation basierend auf Messungen und  Mitrantwortung jedes Mitglieds, permanent verändert werden kann.

Ähnlich funktioniert die Basisdemokratie: Jedes Mitglied hat ein direktes Mitspracherecht. Worin liegt der Unterschied?

Bauernfeind: Soziokratie ist meiner Ansicht nach eine smarte Mischform aus Basisdemokratie und repräsentativer Demokratie. Es müssen nicht alle Entscheidungen von allen Mitgliedern persönlich getroffen werden, sondern von jenen Mitgliedern, die einem entsprechenden Kreis zugehörig sind, welcher im Rahmen seiner Domäne über die aktuelle Sache entscheiden darf. Wenn wir uns eine Gruppe mit 50 Personen vorstellen, ist klar, dass diese Gruppe nicht weit kommen wird, hätte sie den Anspruch, dass immer alle überall mitentscheiden sollen. Der Zeitaufwand wäre viel zu hoch, eine Verschwendung von Ressourcen. Die Erfahrung zeigt, dass es sicher genug ist, spezialisierte Kreise entscheiden zu lassen, die sich fallweise korrigieren. in jedem Kreis sitzen Menschen, die gut moderiert, von der Bildformung zur Meinungsbildung, Integration und Beschlussfassung geführt werden, alle können ihre Perspektiven und ggf. Bedenken einbringen, und müssen erst Konsent geben, damit ein Vorschlag zum gültigen Beschluss wird. Konsent bedeutet, keinen schwerwiegenden Einwand zu haben.

Die Aufteilung in unterschiedliche Kreise ermöglicht es uns, jeweils in bestimmten Bereichen direkt mitzuentscheiden, während das Prinzip der doppelten Koppelung ein indirektes Mitsteuern auch in anderen Kreisen gewährleistet. Durch dieses Prinzip sind alle Kreise mittels Leitungen und Delegierte miteinander verbunden.

Das klingt, als fordere die Soziokratie eine Menge gegenseitiges Vertrauen.

Bauernfeind: Ja, das Vertrauen wird dadurch gestärkt, dass wir ein gemeinsames Ziel definieren und uns dazu verpflichten, dieses Ziel gemeinsam zu erreichen. Wir legen uns sozusagen gegenseitig die Macht in die Hände, mitzusteuern, ohne uns gegenseitig zu Überstimmen. Das braucht schon auch etwas Achtsamkeit bei der Aufnahme von Mitgliedern.

Es gibt natürlich Phasen, in denen Spannungen entstehen. Die lassen sich aber in der Regel derartig lösen, sodass wir nachher gestärkt sind und umso mehr Vertrauen in die Zusammenarbeit, in das gemeinsame Tun und Wirken, haben. Schwierigkeiten und Spannungen sind etwas ganz Natürliches. Wie wir mit ihnen umgehen und wie wir sie nutzen, um weiterzukommen, ist eine der Fragen, in der uns die Soziokratie sehr helfen kann. Essentiell ist aber die Rolle der soziokratischen Gesprächsleitung (Moderation), welche für gute Entscheidungsprozesse sorgt.

Für Personen in Führungspositionen würde sich mit dem Modell der Soziokratie in ihrer Organisation aber einiges ändern.

Bauernfeind: Auch mit Soziokratie braucht es Führung. Wir unterscheiden zwischen dem Alltag in der Ausführung, da wo die Arbeit getan wird, und andererseits die Kreisversammlungen in denen grundsätzliche Entscheidungen gemeinsam getroffen werden. Die meiste Zeit verbringen wir ja in der Ausführung und da ist es unheimlich hilfreich einzelnen Personen in Rollen zu haben, die das Ziel im Blick haben und auch Verbindlichkeit schaffen, als Dienstleistung für den Kreis und seine Mitglieder. Während andererseits in den Kreisversammlungen, alle gleichwertig, mit ihren unterschiedlichen Perspektiven, die Spielregeln und Politik des Kreises gestalten also für den Rahmen der Ausführung sorgen. Führungskräfte müssen nicht alles können, alles wissen und unfehlbar sein, sie sollen aber den Rückhalt haben, also gewählt sein und auch ein Vorbild punkto Fehlerkultur sein.

Das Soziokratie Zentrum Österreich gibt es ja bereits seit 2013. Haben Sie einen Anstieg des gesellschaftlichen Interesses an der Soziokratie beobachtet?

Bauernfeind: Das Interesse steigt deutlich an. Wir sehen, dass die bisher gängige Managementmethoden an Grenzen stoßen und sich viele auf die Suche nach Alternativen machen und hier Antworten finden. Vor etwa 5 Jahren hat sich der Wind gedreht, anders als zu Beginn, als Soziokratie vor allem in Vereinen und Baugruppen bekannt war, kommen seither die Anfragen großteils aus dem Unternehmensbereich. Die Seminare füllen sich mit Führungskräften, Berater*innen, Agile Coaches und Personalern. Unser Ziel ist es aber Soziokratie als leere Methode, für alle Bereiche der Gesellschaft bereitzuhalten, deshalb freut es uns sehr, auch vermehrt von der Wissenschaft, Bildung, Politik und Kultur entdeckt zu werden.