Jenseits von Egoismus: mein Glück und unser Glück

5. September 2022
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Orsolya Lelkes

Populäre Lebensratgeber neigen dazu, Glück als eine individualistische Anstrengung darzustellen: “Gestalte dein glückliches Leben”. Der Positiven Psychologie wird manchmal auch vorgeworfen, dass sie sich nur auf das persönliche Wohlbefinden konzentriert. Im Gegensatz dazu erkennen wir in en:tribe auch den kollektiven Aspekt des Glücks an. Das Streben nach Glück oder Vergnügen sollte nicht egoistisch und schädlich sein. Sich um sich selbst und die Welt zu kümmern, muss zusammengehören, selbst in der krisengeschüttelten Welt, in der wir derzeit leben.

Wie unsere jüngsten Erfahrungen während der Pandemie gezeigt haben, wurde unsere Bewältigung sowohl von der Selbstfürsorge als auch von der Qualität unserer Beziehungen stark beeinflusst.

Glück als “Handlung”

Kann man ein glückliches und erfülltes Leben gestalten? Aristoteles geht davon aus, dass wir bewusst zu unserem eigenen Nutzen handeln können, und wenn wir es richtig machen, werden wir auch all jenen zugute kommen, die wir lieben, und auch unserer ganzen Gemeinschaft.

Das Wort Eudaimonie setzt sich zusammen aus ‚eu’ für ‚das Gute‘ und ‚daimon‘ (δαιμον) für ein übernatürliches Wesen, einen Geist. In der antiken Welt wurden auch jene Wesen als Dämonen bezeichnet, die in den himmlischen Sphären lebten und die Planeten bewegten. Dort aber herrschte perfekte Ordnung, das Universum wurde als geordnet verstanden (= Kosmos). In diesem Weltbild galt als Ziel des menschlichen Strebens, die Vollkommenheit der himmlischen Sphären im eigenen Inneren zu erreichen. Eudaimonia kann als Glück, Glückseligkeit oder blühendes Leben („flourishing life“) übersetzt werden.

Wie ist Glückseligkeit anders?

Glückseligkeit weist nicht die Nachteile vieler zeitgenössischer Ansätze auf.

  • Erstens ist sie kein vorübergehendes Gefühl oder eine Euphorie, sondern ein dauerhafter Zustand, der sich im Laufe des Lebens mit wachsender Weisheit allmählich entfaltet.
  • Zweitens ist es kein Geschenk der Götter, kein Ergebnis von Glück und äußeren Umständen, sondern ein Ergebnis unseres bewussten Handelns: Wir können unsere für ein glückliches Leben notwendigen Fähigkeiten erlernen und kultivieren.
  • Drittens ist sie nicht individualistisch, indem sie den Erfolg des Einzelnen getrennt von anderen sieht, sondern sie ist beziehungsorientiert: Ein gutes Leben wird mit Freunden geteilt und dient dem Nutzen der größeren Gemeinschaft (dem Stadtstaat in der griechischen Antike).

Intrinsische Motivation verstärken

Der antike griechische Ansatz von Aristoteles kann als philosophische Grundlage der modernen Motivationstheorie der intrinsischen Motivation angesehen werden. Krisen können uns treffen, wir können schwierige Phasen in unserem Leben durchlaufen, wir können Verluste erleiden, aber die Frage ist, wohin wir gehen, was unsere Visionen für ein blühendes Leben sind. Ein innerer Anker des Fortschritts kann uns dabei unterstützen: Wir werden in der Lage sein, unser Wachstum inmitten schrumpfender äußerer Möglichkeiten und Ressourcen zu erleben. Wir können uns dafür entscheiden, unsere unterstützenden Beziehungen zu schätzen, zu stärken und uns auf sie zu verlassen, wir können besser darin werden, zu lieben und Liebe anzunehmen, Fürsorge und Respekt zu geben und zu empfangen.

Keine toxische Positivität

Es handelt sich nicht um eine Art erzwungene positive Abkürzung, bei der wir unsere negativen Gefühle oder Erfahrungen verdrängen. Vielmehr ist es eine Einladung zu einem umfassenden Bewusstsein: Wir identifizieren uns nicht ausschließlich mit unseren Herausforderungen oder harten Gefühlen (Traurigkeit, Wut, Angst), sondern nehmen auch andere, positivere Gefühle wahr (Dankbarkeit, Freude am Augenblick, angenehme körperliche Empfindungen, um nur einige zu nennen). Wir sehen das Wachstum. Wir suchen, wo und wie wir weise handeln können.

„Ich“ und „wir“: gegenseitig verstärkender Kreislauf

Zur Eudaimonie, zum „guten Handeln“, braucht es Bewusstheit, Selbstreflexion und Autonomie. Mittels der Bewusstheit entdeckt der Mensch sein „wahres Ich“ und kann seine Möglichkeiten verwirklichen. Eine Gemeinschaft, ein Team kann diesen Prozess unterstützen und eine allgemeine Kultur der Kultivierung eines guten Lebens schaffen. Es ist möglich, einen sich gegenseitig verstärkenden Kreislauf zu schaffen, in dem einerseits die Entwicklung des Einzelnen die Entwicklung der Gemeinschaft unterstützt und andererseits die Kultur der Gemeinschaft den Fortschritt des Einzelnen fördert.

Tags: Glück, Glückseligkeit, tribe, Freundschaft, Gemeinschaft, Gesellschaft, Gefühle, Krise

Categories: Coaching, Positive Psychologie

 


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